In dreissig Jahren leben in Nigeria gleich viele Menschen wie in der gesamten EU. Ist das ein Problem?
Afrikas Bevölkerungszahl wächst rapide und wird sich bis 2050 verdoppeln. Ein Schreckensszenario? Nicht unbedingt – wenn jetzt die richtigen Weichen gestellt werden.
Es sind besorgte Worte, mit denen Arthur Jones über die neuesten Entwicklungen im Empire berichtet. In Afrika, so der britische Kolonialminister, finde gerade Ausserordentliches statt: Obwohl es an Land, Medizin und Arbeit fehle, wachse die Bevölkerung in den britischen Kolonien unentwegt. Ein «Bevölkerungsproblem von erschreckender Dimension» bahne sich an auf dem Kontinent. «Wir müssen mit schwierigen Zeiten rechnen.»
Das war 1948. Knapp 200 Millionen Einwohner zählte Afrika zu jenem Zeitpunkt – halb so viele wie Europa. Seither hat sich vieles verändert. Innert achtzig Jahren ist die Bevölkerung des Kontinents auf heute rund 1,3 Milliarden angestiegen. Das sind doppelt so viele Menschen, wie in Europa leben.
Nicht verändert hat sich die Sorge, dass es bald zu viele sein könnten. Kein anderer Kontinent wächst schneller als Afrika. Laut Demografen wird sich die Bevölkerungszahl hier bis 2050 nochmals verdoppeln. Dannzumal leben in der gesamten EU etwa gleich viele Menschen wie in Nigeria.
Risiken, aber auch Chancen
Ist das ein Problem? Droht dem Kontinent nun, was Jones bereits vor zwei Generationen anmahnte: eine wirtschaftliche Lähmung, gar eine Katastrophe? Die Antwort auf diese Fragen ist vielschichtiger, als es die oft eingleisige Debatte des Themas nahelegt.
Tatsächlich bringt ein sehr rasches Bevölkerungswachstum Risiken mit sich. Selbst wenn es Afrika gelingt, die Armutsquote in den nächsten dreissig Jahren zu halbieren, bleibt die absolute Zahl der Armen wegen der rapiden Bevölkerungsexpansion unverändert. Auch das teilweise hohe Wirtschaftswachstum auf dem Kontinent wird durch die Bevölkerungszunahme relativiert. Ein wachsender Kuchen bietet dem Einzelnen kaum Zugewinn, wenn er ihn mit immer mehr anderen teilen muss.
Unterschiedliche Bevölkerungsentwicklung in Europa und Afrika
Reale und prognostizierte Bevölkerungsgrösse (in Milliarden)
Mancherorts könnte die Bevölkerungszunahme zudem zu wirtschaftlicher und politischer Destabilisierung führen. Das gilt etwa im Sahel: Die Region verzeichnet die höchste Geburtenrate der Welt und kämpft mit knapper werdenden natürlichen Ressourcen. Bereits heute dürfte das Bevölkerungswachstum hier dazu beitragen, dass Konflikte sich ausbreiten, Menschen vertrieben werden und staatliche Strukturen erodieren.
Klar ist indes auch: Afrika ist kein monolithischer Block, die regionalen Unterschiede sind auch punkto Bevölkerungswachstum gross. Im südlichen Afrika liegen die Geburtenraten heute vielerorts tiefer als in manchen Ländern Asiens. Zudem geht oft die schiere Grösse des Kontinents vergessen: Afrika ist rund zehn Mal grösser als Indien, das heute ähnlich viele Menschen beherbergt. Die malthusianische Furcht vor flächendeckenden Hungersnöten ist übertrieben, zumal ein Drittel aller noch ungenutzten Agrarflächen in Afrika liegt.
Der Anteil der afrikanischen Neugeborenen nimmt zu
Regionaler Anteil an den weltweiten Geburten in Prozent
Unbestritten ist zudem, dass eine wachsende Bevölkerung für viele Länder Afrikas auch Chancen bietet. In den nächsten Jahren erreichen hier Millionen von Menschen das erwerbsfähige Alter. Wenn es gelingt, deren produktive Kraft zu nutzen, winkt eine «demografische Dividende». Selbiges war im vergangenen Jahrhundert in Europa zur Zeit der Babyboomer und in den asiatischen Tigerstaaten zu beobachten: Die Wirtschaft brummt, das Entwicklungsniveau steigt, die Geburtenrate sinkt.
Bildung für Mädchen als Schlüssel
Was also gilt es für Afrika zu tun, damit das kräftige Wachstum nicht zum Problem wird, sondern zum Gewinn? Die Zusammenhänge sind komplex und kontextabhängig. Drei Bereiche sind jedoch von besonderer Bedeutung.
An erster Stelle steht dabei die Verbesserung der Grundbildung, vor allem für Mädchen. Das ist nicht nur für die wirtschaftliche Entwicklung wichtig, sondern nachweislich eine der effektivsten Massnahmen, um die Geburtenrate zu senken: Frauen ohne Schulbildung heiraten früher und haben bis zu drei Mal so viele Kinder wie Sekundarschul-Absolventinnen.
Zweitens: Jeden Monat drängen rund eine Million Afrikanerinnen und Afrikaner auf den Arbeitsmarkt. Sie brauchen Stellen. Damit einher gehen nicht nur ein gesichertes Einkommen und ein Wohlstandsgewinn, sondern eine Perspektive, die ausstrahlt auf die nächste Generation. Wer weiss, dass nach einem guten Schulabschluss eine angemessene Arbeit lockt, misst der Bildung einen ungleich höheren Wert bei.
Drittens stärkt ein guter Zugang zu Familienplanung die Selbstermächtigung – und hat einen nachweisbaren Einfluss auf die Familiengrösse. Dazu gehören Aufklärungsangebote genauso wie das Verfügbarmachen moderner Verhütungsmittel und die Stärkung des Selbstbestimmungsrechts der Frauen.
Der Trend stimmt, die Geschwindigkeit nicht
Die bisherige Bilanz Afrikas in diesen Schlüsselbereichen ist durchzogen. Auf der Sollseite stehen in der Mehrheit der Länder beachtliche Fortschritte in der Bildung. Betrug die Einschulungsrate auf dem Kontinent in den 1970er Jahren noch 50 Prozent, liegt sie heute nahe bei 100 Prozent, auch für Mädchen. Vielerorts sind in den letzten Jahren erfolgreiche Familienplanungsprogramme eingeführt worden. Und die Wirtschaft der 54 Länder Afrikas ist seit dem Jahr 2000 deutlich schneller gewachsen als die Bevölkerung.
Diese Entwicklungen haben massgeblich dazu beigetragen, dass die Fertilitätsrate in Afrika seit 1990 von 6,7 Kindern pro Frau auf 4,4 Kinder gefallen ist, in einzelnen Ländern gar deutlich stärker. Gemessen am Einkommensniveau verzeichnet Afrika damit eine ähnliche Entwicklung wie viele Länder in Lateinamerika, Nahost und Asien zu einem vergleichbaren Entwicklungszeitpunkt.
Wie viele Kinder eine Frau bekommt, unterscheidet sich je nach Land stark
Fertilitätsrate im Jahr 2018
Gleichwohl dürften die bisherigen Fortschritte in zahlreichen Ländern nicht ausreichen, um eine umfassende «demografische Dividende» einzustreichen. In einzelnen Ländern droht das Bevölkerungswachstum bei einer Fortsetzung des jetzigen Kurses gar zum Treiber von Protesten, Konflikten oder Migration zu werden.
Gerade im Bereich der Sekundarschulbildung und bei der Familienplanung müssen die Anstrengungen auf dem Kontinent deutlich verstärkt werden. Noch immer schliesst nur ein Drittel aller Afrikanerinnen die Sekundarschule ab. Und mehr als jede fünfte Afrikanerin gibt laut der Uno an, moderne Verhütungsmittel verwenden zu wollen, aber keinen Zugang zu diesen zu haben.
Wohl am ausgeprägtesten sind die Probleme bei der Schaffung von Arbeitsplätzen. Die grosse Mehrheit der afrikanischen Jugendlichen hält sich weiterhin mit informellen Jobs über Wasser. Mancherorts liegt der entsprechende Anteil bei über 90 Prozent. Daran hat auch das zum Teil hohe Wirtschaftswachstum wenig geändert.
Indien überholt China, Nigeria die USA
Die zehn bevölkerungsreichsten Länder der Welt im Jahr 2050, Bevölkerungszahl in Millionen
Einem insgesamt positiven Gesamttrend steht also die Erkenntnis entgegen, dass die Geschwindigkeit des Wandels vielerorts nicht ausreicht, um Chancen wahrzunehmen und Risiken zu minimieren. Das gilt heute mehr noch als vor einigen Jahren, haben doch die Fortschritte etwa im Bildungs- und Wirtschaftsbereich durch die jüngste Pandemie einen deutlichen Dämpfer erfahren.
Ein träger Dampfer
In vielen Ländern Afrikas sind daher Kurskorrekturen nötig. In der Verantwortung stehen dabei primär die Staaten selbst. Zwar haben viele Regierungen auf dem Kontinent nach langem Zaudern die Risiken einer raschen Bevölkerungsexpansion erkannt und zum Teil entsprechende Ziele und Massnahmenkataloge entwickelt. Die Umsetzung aber bleibt Stückwerk. Vielerorts wird zu wenig in Bildung und Familienplanung investiert. Bei der Schaffung von angemessenen Arbeitsplätzen ist die Bilanz vieler afrikanischer Regierungen nachgerade miserabel.
Eine Teilverantwortung liegt aber auch bei Akteuren der Entwicklungszusammenarbeit. Für zahlreiche Organisationen blieb das Thema Familienplanung lange ein Tabu. Zu heikel schien ein entsprechendes Engagement, zu absehbar der Vorwurf der neokolonialen Einmischung. Auch bei vielen staatlichen Geberorganisationen geniessen Familienplanungs-Projekte bis heute keine Priorität. Grossbritannien kündigte erst vor einigen Wochen an, seine Entwicklungsgelder in diesem Bereich um 85 Prozent zu reduzieren.
Solcherlei ist auch deshalb bedenklich, weil der entwicklungspolitische Hebel in wenigen anderen Bereichen grösser ist: In Nigeria etwa verspricht eine Reduktion der prognostizierten Geburtenrate um ein weiteres Kind eine Verdoppelung des Pro-Kopf-Einkommens bis 2060, wie eine Studie zeigt.
Die Zeit für entsprechende Reformen ist knapp. Die demografische Entwicklung ist ein äusserst träger Dampfer, Änderungen im Bildungs- oder Gesundheitsbereich zahlen sich oft erst Jahre oder Jahrzehnte später aus. Ob die rund 2,5 Milliarden Menschen, die Mitte dieses Jahrhunderts in Afrika leben werden, dereinst als Chance oder als «Bevölkerungsproblem» betrachtet werden, ist damit wesentlich davon abhängig, ob heute die richtigen Weichen gestellt werden.
Dass das überall gelingt, muss bezweifelt werden. Genauso zweifelhaft ist indes der in der Debatte seit Jahrzehnten verbreitete Alarmismus, der Grautöne und regionale Differenzen ausklammert und dazu beiträgt, dass gescheite Reformen verpasst und Chancen versäumt werden.
Author: Jordan Fox
Last Updated: 1703174403
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